Dysphagie
Aus phys-med
(Weitergeleitet von Schluckstörungen)
Grundlagen
- Definition: Beeinträchtigung einer adäquaten Nahrungszufuhr
- Penetration: Eintritt von Material in den Aditus laryngis, maximal bis Stimmbänder
- Aspiration: Eintritt von Material unter die Glottisebene
- prä-/intra-/postdeglutitiv: vor/während/Triggerung des Schluckreflexes
- verzögerter Schluckreflex: Verlängerung der (videofluoroskopisch ermittelten) Zeit zwischen Ankunft des Kontrastmittelbolus in den Valleculae epiglotticae und Beginn der anterior-superioren Hyoid-Exkursion (altersabhängig)
- stumme Aspirationen (silent aspirations): Aspirationen ohne Husten (meist gestörte laryngeale Sensibilität)
- Krikopharyngeale Dysfunktion: Öffnungsstörung des oberen Ösophagussphinkters (oÖS) aufgrund unzureichender muskulärer Relaxation
- Therapieziel: vollständige orale Ernährung
Ätiologie
- neurogene Schluckstörungen
- HNO-Erkrankungen
- Ösophagus-Erkrankungen
- psychogene Dysphagien
Anatomie und Physiologie
- nervale Steuerung:
- frontoparietal bds.
- Tractus corticobulbares
- Hirnnerven und -kerne in Medulla oblongata
- V (trigeminus) - Sensibilität Gesicht und motorisch Kaumuskulatur
- VII (facialis) - Mimik, Geschmack vordere 2/3 Zunge, Speicheldrüsen (außer Parotis)
- IX (glossopharyngeus) - hinterer Zungenabschnitt, Rachenmuskulatur, Parotis
- X (vagus)
- Rami pharyngei - Rachenmuskulatur, Schluckakt
- Ramus esophageus - motorisch quergestreifte Muskulatur Ösophagus
- Nervus laryngeus superior - mot. Musculus cricothyroideus, sens. Schleimhaut des Kehlkopfs oberhalb der Stimmlippen --> Hustenreflex
- Nervus laryngeus recurrens - alle Kehlkopfmuskeln (außer Musculus cricothyroideus), Speise- und Luftröhre
- XII (hypoglossus) - Zungenbewegung
- pattern generators in dorsaler/ventraler Pons
- Muskulatur
- Gesicht
- Hals
- Zunge
- Pharynx
- Larynx
- Ösophagus
- gesamte Halsmuskulatur (Haltungssteuerung)
- Abdichtung der Atemwege:
- Glottis senken
- Taschenfalten schließen
- Stimmlippen schließen
Anamnese
- Aspiration
- Husten, Niesen, Erbrechen
- Globusgefühl
- gurgelnde/feuchte Stimme ("wet voice")
- rezidivierende Infekte/Pneumonien
- Gewichtsverlust
- Speichelfluss
- Dysphonie/Dysarthrie
Untersuchung
- Wachheit, Haltung, Mobilität, Atmung
- Ansprache, Reaktion, Hand geben
- Mundinspektion
- Schleimhäute, Bissspuren, Abweichung Zunge/Velum, Nahrungsreste
- Paresen Zunge-/Rachenmuskulatur
- Sensibilitätsstörungen oropharyngeal → fehlender Würgreflex
- Aufforderung zu Bewegung
- Mundöffnung, Zunge rausstrecken, Lippen spitz/breit, Kaubewegungen, Bewegung gegen Widerstand (Spatel)
- Bulbäre Symptomatik (Fibrillationen/Atrophie der Zunge, abgeschwächte/fehlende oropharyngeale Reflexe)
- Paresen Kiefer-/Gesichtsmuskulatur
- Speichelschluck
- möglich?, Häufigkeit, Speichelaustritt, Verschlucken, wet voice
- Hypo-/Hypersalivation, Sialorrhoe
- Schlucken verschiedener Konsistenzen
- Wasser, Brei, feste Kost
- Reinigungsfunktione → Husten-/Würgreflex ("Clearance")
- Aspiration, Menge, Geschwindigkeit
Beachte: Aufmerksamkeit, Konzentration, Umgebung, muskuläre Ermüdung
Diagnostik
- Ziel der Diagnostik:
- orale Nahrung oder Sondennahrung?
- Schutz der Atemwege nötig → Trachealkanüle?
- Therapieplanung
- 50ml-Wassertest: in 5ml-Schlucken trinken
- VFSS (Video-Fluoroscopic Swallowing Study)
- FEES (Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing
- (Ösophagus-Manometrie)
- Barium-Breischluck
- Schweregradeinteilung: Penetrations-Aspirations-Skala (PAS) von Rosenbek et al. (1996)
Grad | Charakteristika |
---|---|
1 | Keine Penetration |
2 | Laryngeale Penetration oberhalb der Stimmlippen mit vollständiger Reinigung |
3 | Laryngeale Penetration oberhalb der Stimmlippen, keine Reinigung |
4 | Laryngeale Penetration bis zu den Stimmlippen mit vollständiger Reinigung |
5 | Laryngeale Penetration bis zu den Stimmlippen, keine Reinigung |
6 | Aspiration mit Reinigung der Trachea (Abhusten in Aditus laryngis und außerhalb) |
7 | Aspiration, keine Reinigung der Trachea bei zu schwachem Hustenstoß |
8 | Aspiration, kein Husten |
Phasen des Schluckvorganges
- physiologisch:
- präoral: Einstimmung, Speichelproduktion
- oral: Zerkleinern, Einspeicheln, Transport mit Zunge, Velumhebung
- pharyngeal: Gaumenbögen → Schluckreflex: Hebung von Zungenbein/Larynx, Verschluss von Pharynx (Velum) und Stimmlippen/Taschenfalten, Kehldeckelverschluss, Peristaltik Pharynx
- ösophageal: Öffnung OÖS, Peristaltik Ösophagus
- nach Störung:
- prädeglutitiv: Übertritt vor Auslösen des Schluckreflexes (mangelnde Boluskontrolle, verzögerte Reflexauslösung)
- intradeglutitiv: beim Schlucken (fehlender/mangelnder Larynxverschluss/Kehlkopfhebung/OÖS-Öffnung)
- postdeglutitiv: Reste nach Schlucken (Nahrungsreste im Hypopharynx, OÖS-Störung)
Therapie
- Akutphase nach Schlaganfall: Nasogastrale Sonde (NGS)
- Nachteile: unangenehm, Salivation ↑, retrograde Peristaltik, Würgereiz ↑, Aspiration
- PEG frühestens nach 1-2 Wochen
- erste Schluckversuche frühzeitig, Voraussetzung: Patient kann willentlich husten und/oder Würgereflex auslösbar*
- allgemeine Prinzipien:
- Schlucktraining mit kleinsten Mengen breiiger Speisen (nach Patientenwunsch)
- Patient muss aufrecht sitzen
- Mund muss leer sein vor neuer Nahrungsaufnahme
- gründliche Mundpflege/Hygiene → Infektionsrisiko ↓
Therapieverfahren
- restituierend
- Therapie des Facio-Oralen Trakts (F.O.T.T. nach Kay Coombes)
- Wahrnehmungsschulung
- Anbahnung des Schluckaktes
- thermische/chemische Stimulation (z.B. Eis) → pharyngeale Passagezeit ↓, Aspirationsrisiko ↓
- Anbahnung, Stimulation und Trainung schluckrelevanter Bewegungen
- kompensatorisch
- Modifikationen des Schluckvorgangs durch Haltungsänderung oder Schlucktechniken
- Kopf-/Körperhaltung:
- Hemiparese: Kopfdrehung zur paretischen Seite, Seitneigung zur gesunden Seite
- ungenügender Glottis-Verschluss: Schlucken mit gebeugtem Kopf → Kehlkopfhebung, pharyngeales Lumen ↓
- Schluckschutzübung: einatmen, essen und schlucken, ausatmen
- Mendelsonmanöver: nach dem Schlucken den Kehlkopf, evtl. auch manuell von außen, ein wenig anheben
- supraglottisches Schlucken: Luft anhalten, Schlucken, Husten, Nachschlucken
- super-supraglottisches Schlucken: Pressen, Schlucken, Husten, Nachschlucken.
- Kopf-/Körperhaltung:
- Modifikationen des Schluckvorgangs durch Haltungsänderung oder Schlucktechniken
- adaptierend
- Nahrung anpassen (Zeit, Tagesablauf, Konsistenz)
- spezielle Ess-/Trinkhilfen
- ggf. Tracheotomie, PEG
- Medikation (Scopolamin, Botox für Speicheldrüsen, Ösophagussphinkter)
- Outcome-Skala "Schluckbeeinträchtigung" von Prosiegel et al. 2002, Alternative: Bogenhausener Dysphagie-Score (BODS)
Grad | Charakteristika |
---|---|
0 | Keine Einschränkungen |
1 | Voll orale Ernährung mit Kompensation*, aber ohne Konsistenzeinschränkung |
2 | Voll orale Ernährung ohne Kompensation, aber mit Konsistenzeinschränkung |
3 | Voll orale Ernährung mit Kompensation und mit Konsistenzeinschränkung |
4 | Partiell orale Ernährung |
5 | Partiell orale Ernährung mit Kompensation |
6 | Ernährung ausschließlich über Sonde |
* Kompensation: Haltungsänderungen bzw. Schlucktechniken
Medikamentös
- Prophylaxe von Aspirationspneumonien: Amantadin 100 mg/d
- symptomatischen Singultus: Domperidon + Baclofen + PPI, ggf. Gabapentin
- Reflux: PPI
- Sialorrhö, häufig durch unvollständigen Lippenschluß → Risiko der Dehydratation durch Flüssigkeitsverlust
- Stimulations- und Faszilitationsübungen
- Anticholinergika, z.B. Scopolamin-Pflaster (72h)
- Btx in Parotiden (+ Submandibulardrüsen)
- Xerostomie: Pilocarpinhydrochlorid (Salagen®), falls Restspeichelproduktion vorhanden
Trachealkanüle
- bei Speichelaspiration
- Dilatationstracheotomie (kurzfristig) → sehr eng, Kanülenwechsel schwierig, Verschlussgefahr
- plastisch angelegte Tracheotomie (langfristig)
- Cuff-Druck: 20-25 mmHg
- Druckausgleichs-Cuff (Lanz-Ventil) → trachealwandschonend
- Metariel oberhalb Cuff ("nasses Tracheostoma") → Infektionsgefahr → Absaugvorrichtung oberhalb Manschette/subglottisch
- Kanülenwechsel alle 3-8 Tage
- kurzzeitiges Entblocken/Verschließen → Beübugn der Mund-Nasen-Atmung
- Entblockung 24-48 h ohne tracheales Absaugen/pulmonale + sichere Mund-Nasen-Atmung → Dekanülierung unter pulsoximetrischem Monitoring
- plastisch angelegtes Tracheostoma: Abkleben für 10-14 Tage → spontane Verkleinerung, dann chirurgischer Verschluss
Lebensmittel
Geeignete Lebensmittel | Ungeeignete Lebensmittel |
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Passierte, weiche Kost | trockene, faserige, körnige Kost |
Cremesuppe | Knäckebrot |
Kartoffelpüree | Zwieback |
pürierte Früchte | Kekse, Chips |
Rührei | Rindfleisch |
passiertes Gemüse | Spargel |
Fruchteis | weißes Geflügelfleisch |
Streichwurst | Reis |
Brot ohne Rinde | Kräuter |
Würstchen ohne Haut | Müsli, Nüsse |
Leberkäse | Obst mit Schale oder Kernen |
Käse-Obstkuchen | Kaugummi, Gummibärchen |
Götterspeise | lauwarme Getränke |
gekühlte Getränke | kohlensäurehaltige Getränke |
angedickte Getränke | Alkohol |